Dekubitus -Tödliche Pflege

erstehilfe.jpgMehr als 400.000 Menschen in Deutschland leiden unter einem Druckgeschwür, in der Fachwelt Dekubitus genannt. Pflegebedürftige, bettlägrige und chronisch kranke ältere Menschen sind besonders gefährdet, eine solche schmerzhafte und gefährliche Läsion zu entwickeln.Dekubitus gilt grundsätzlich als vermeidbar und somit als Indikator von Pflegequalität.
Dekubituserkrankungen führen nicht nur zu erheblichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen in der Lebensqualität der Betroffenen sondern haben oftmals tödlichen Ausgang.

zu diesem Thema Auszüge einer Panorama- Sendung, die der NDR am 14.01.99, 21.00 Uhr ausstrahlte:

Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf. Wir treffen den Leiter des Instituts für Rechtsmedizin. Professor Klaus Püschel hat in einer großangelegten Studie zehntausend Verstorbene untersucht.

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PROF. KLAUS PÜSCHEL:
(Rechtsmediziner)
"Die Muskulatur ist symmetrisch kräftig ausgeprägt. Am Knie Leichenstarre."

KOMMENTAR:
Er wollte herausfinden, wieviele alte Menschen sich vor ihrem Tod wundgelegen haben. Die Suche nach offenen Druckgeschwüren, lateinisch decubitus, führte zu einem alarmierenden Befund.

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PROF. KLAUS PÜSCHEL:
"Unsere Ergebnisse besagen bisher, daß etwa drei bis vier Prozent der verstorbenen pflegebedürftigen Menschen zum Zeitpunkt des Todes eine tiefer reichende Durchliegestelle am Rücken oder am Hacken hatte. Für mich bedeutet das, daß bundesweit von vermutlich mehreren tausend derartiger Fälle in jedem Jahr auszugehen ist. Und ganz klar: daraus erwächst ein dringender Handlungsbedarf.

KOMMENTAR:
So hart es klingen mag: Jedes Jahr liegen in Deutschland mehrere tausend alte Menschen über Wochen und Monate auf ihrem blanken Fleisch oder ihren Knochen.

Elli Sielemann war am Ende ihres Lebens ein Pflegefall. Ihr Sohn Heiner beschuldigt den Pflegedienst seiner Mutter, den Dekubitus nicht richtig behandelt zu haben. Die Polizei ermittelt wegen fahrlässiger

Körperverletzung.

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HEINER SIELEMANN:
"Ich habe eine ungeheure Wut im Bauch auf die Leute, die für den Tod meiner Mutter verantwortlich sind. Und das ist aus meiner Sicht in erster Linie der Pflegedienst, den wir beauftragt hatten, meine Mutter zu pflegen."

KOMMENTAR:
Druckgeschwüre können fast immer durch sachgerechte Pflege verhindert werden. Das aber setzt einen hohen Aufwand voraus: Alle zwei Stunden müssen Bettlägrige umgelagert werden, Tag und Nacht.

Spezialmatratzen können helfen, doch das Wichtigste ist die frühzeitige Erkennung.

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HARMUT SAUER:
(Diakonisches Werk)
"Dekubitus ist in der Regel ein Pflegefehler. Der tritt auf, wenn Mangel besteht im Wissen um die Entstehung des Dekubital-Ulkus oder wenn auch zu wenig Pflegekräfte vorhanden sind."

KOMMENTAR:
Mangel an Wissen, Mangel an Fachpersonal. Seit Einführung der Pflegeversicherung werden alte Menschen nach wirtschaftlichen Kriterien betreut. Immer häufiger bedeutet das: Erst der Markt, dann der Mensch.Dreißig Milliarden Mark jährlich – der Geldsegen lockt Geschäftemacher.

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HARTMUT SAUER:
"Mit dem Pflegeversicherungsgesetz hat es eine deutliche Ökonomisierung, eine Öffnung des Marktes gegeben, die wir für sehr bedenklich halten. Es gibt jetzt keine Qualitätskontrollen, um dann schwarze Schafe, die ich auf diesem Markt ja auch tummeln, vom Markt zu nehmen."

KOMMENTAR:
Voerde, Nordrhein-Westfalen. Christel Götz hat den Tod ihrer Mutter bis heute nicht verwunden. Zwei Jahre hat sie die alte Frau gepflegt, dann gab sie sie schweren Herzens in ein Pflegeheim. Dort hat man sie auf dem Gewissen, glaubt Frau Götz. Zu spät sah sie die Wunden ihrer Mutter.

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CHRISTEL GÖTZ:
"Ich war fix und fertig und bin auch dann weinend aus dem Zimmer gelaufen. Ich konnte das nicht verstehen, daß die Pflege so schlecht war. Wenn ich hier stehe, dann denke ich oft darüber nach, vielleicht würde sie sogar noch leben, wenn ich sie noch weiter selbst gepflegt hätte."

KOMMENTAR:
Rund 5.000 Mark bezahlte die Tochter für die Pflege im Heim. Heute glaubt sie, sie habe mit ihrem Geld den Tod der Mutter finanziert. Der Betreiber des Pflegeheims bestreitet die Vorwürfe.

In der Seniorenresidenz erkrankte auch die Mutter von Sigrid Gräfer an Dekubitus. Die eitrigen Wunden führten zur tödlichen Blutvergiftung. Frau Gräfer hat wie viele Angehörige das Gefühl, sie habe ihre Mutter im Stich gelassen und sei so mitschuldig an ihrem Ende.

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SIGRID GRÄFER:
"Ich habe mich von der Fassade des Hauses täuschen lassen, tut mir leid. Ich bin rein gegangen, wunderschön, ist ja alles drin. Nur – ich habe gedacht, daß alte Menschen eigentlich kein Schwimmbecken brauchen und auch keine Kegelbahn, sondern einfach ein bißchen Pflege"

KOMMENTAR:
Die heile Welt von Sigrid Gräfer hat seitdem Risse. Sie kann immer noch nicht fassen, daß der wundgelegene Körper auf dem Foto der ihrer Mutter ist. Gegen den Pflegeheimbesitzer hat sie Anzeige erstattet.

Dr. Jürgen Heck dokumentierte den Zustand der Mutter nach der Einlieferung ins Krankenhaus. Wahrscheinlich Pflegefehler, sagte er damals der Tochter. Er erinnert sich gut an den Fall.

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DR. JÜRGEN HECK:
(Leitender Arzt, EN-Süd-Klinikum)
"Das Ausmaß dieses Befundes war schon ungewöhnlich. Selbstverständlich, wenn ein Dekubitus dieses – ich will mal sagen – monströsen Ausmaßes vorliegt, dann muß man immer die Frage stellen: Liegt ein Pflegedefizit vor"

KOMMENTAR:
Ein Pflegedefizit konnte die Staatsanwaltschaft in Hagen nicht nachweisen. Die Pflegeprotokolle, so ein Gutachter, seien in Ordnung. Das Ermittlungsverfahren wurde vorerst eingestellt.

Wir treffen Patrick Schuster. Er war Altenpfleger unter der gleichen Pflegedienstleitung, die vorher für Frau Gräfer zuständig war. Er berichtet, wie die Pflegeprotokolle einer Dekubituspatientin nachträglich verfälscht

wurden. Patrick Schuster kopierte heimlich Original und Fälschung. Die Handzeichen der Helfer im Original dokumentieren, wann das Umbetten erfolgte. Teilweise nur alle vier Kästchen, das heißt: alle vier Stunden –

viel zu wenig. Dieser Ausschnitt wurde gefälscht. Die neuen Handzeichen täuschen jetzt Lagerungen vor, die nie stattfanden. Laut Protokoll ist die Frau sogar noch nach ihrem Tod gepflegt worden.

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PATRICK SCHUSTER:
(Altenpfleger)
"In dem Fall war es eben eine Bewohnerin, die nicht in der Lage war, sich selber zu melden oder auch zu schellen, einen Notruf zu geben. Das heißt also, diese Bewohnerin ist in dem Fall vollkommen abhängig vom Pflegepersonal und ist eigentlich – nach den Protokollen – drei Stunden sich alleine überlassen worden."

INTERVIEWERIN:
"Und alleine gestorben?"

PATRICK SCHUSTER:
"Auch alleine gestorben, ja."

KOMMENTAR:
Hamburg, scheinbar ein Pflegeparadies, bundesweit die Stadt mit den meisten ambulanten Pflegediensten. Hier kam es mehrfach zwischen rivalisierenden Geschäftemachern zu Prügeleien um potentielle Kunden.

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REINHARD FALLAK:
(Polizei Hamburg)
"Die Hamburger Polizei hat seit Ende´96, Anfang´97 eine Ermittlungsgruppe ins Leben gerufen, und seitdem haben wir 176 Fälle, die wir bearbeiten. Und diese 176 Fälle betreffen etwa vierzig Prozent allerPflegedienste, die in Hamburg tätig sind."

KOMMENTAR:
Und so sehen die Kontrollen aus. Der medizinische Dienst der Krankenkassen darf seine Kontrollgänge nur mit Voranmeldung durchführen. Natürlich ist es dann ziemlich unwahrscheinlich, Pflegemängel festzustellen.

Bundesweit wird seit Jahren eine unabhängige und wirksame Qualitätskontrolle gefordert, um betrügerische Pflegedienste auf frischer Tat zu ertappen.

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REINHARD FALLAK:
"Zehn Prozent aller Betreiber der Pflegedienste sind bereits kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten, meistens mit Betrugsfällen, und dort wird in zwei Kategorien vorgegangen. Der erste Fall ist, über Bewerbungsunterlagen von potentiellen Pflegekräften verfälscht oder fälscht man Unterlagen, Urkunden und erlangt so die Zulassung. Der zweite Fall ist, man stellt examinierte Pflegekräfte ein, man muß mindestensvier haben, entläßt sie nach kurzer Zeit und beschäftigt dann unqualifizierte Kräfte weiter, die gar nicht professionelle Pflege leisten können."

KOMMENTAR:
Zwei ehemalige Pflegekräfte berichten aus ihrem Alltag:

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ANONYME PFLEGEKRÄFTE:
"Spritzen werden durch Haushaltskräfte gesetzt, Insulin besonders. Dieses ganze System, ich denke, das ist ein Betrug, der einfach unglaublich ist, an diesen alten Menschen. Wenn man mal überlegt, daß wir alle morgen Pflegefälle sein könnten und einem solchen Menschen in die Hände fallen, denke ich, ist das ein Wahnsinn,, eine kriminelle Energie und ein Betrug, der seinesgleichen einfach sucht."

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HARTMUT SAUER:
(Diakonisches Werk)
";Ich finde es ausgesprochen problematisch, daß die Politik derart auf Markt gesetzt hat und geglaubt hat, daß die Marktgesetze es alles schon richten würden. Dies ist ein kapitaler Fehler. Es zeigt sich an vielen Auswüchsen, die wir jetzt im Pflegemarkt haben, daß hier unzureichend geplant worden ist. Das muß dringend nachgebessert werden. Und hier erwarten wir eine deutliche Position der Politik."

KOMMENTAR:
Der Pflegedienst Wendel und Fischer in Hamburg. Auch hier ermittelt die Polizei wegen eines ungeklärten Todesfalls. Wir haben um ein Interview gebeten, der Pflegedienstleiter aber will erst einmal mit dem Anwalt telefonieren.

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MICHAEL THOMSEN:
(Pflegedienst Wendel und Fischer)
"Wir werden uns – ich habe eben Rücksprache mit dem Anwalt gehalten – zu der Sache jetzt nicht weiter äußern."

INTERVIEWER:
"Warum nicht?"

MICHAEL THOMSEN:
"Das kann ich nicht."

INTERVIEWER:
"Also Sie können keine Angaben machen, ob es jetzt eine richtige Pflege war oder ob es da Fehler gegeben hat."

MICHAEL THOMSEN:
" Dazu möchte ich nichts sagen. Also mir ist auch schleierhaft, wie Sie an die Informationen da gekommen sind, weil – wie gesagt – das noch ein laufendes Verfahren ist. Und wir behalten uns auch vor, Anzeige gegendie Angehörigen zu erstatten wegen übler Nachrede, weil da auch wirklich ziemlich heftige Sachen auch gelaufen sind."

KOMMENTAR:
Marietta Gertz hält den Pflegedienst für mitverantwortlich am Tod ihrer Mutter. Der bestreitet inzwischen die Vorwürfe. Sie hat den Pflegern vertraut. Ein typischer Fall. Viele Angehörige vermeiden lieber den Blick unter

die Decke.

Elfriede Brust, die Mutter. Ihr Hausarzt vermittelte sie zum Pflegedienst. Ab diesem Zeitpunkt geben die Pflegeprotokolle von Wendel und Fischer einen Einblick in das qualvolle Sterben der alten Frau.. Eintrag der

Pflegekraft am 21.11.: Linke Pohälfte, unten, haben sich kleine Bläschen gebildet. Sieht sehr eigenartig aus.

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MARIETTA GERTZ:
"Man hat mir nur gesagt, daß meine Mutter eine Stelle hat, die nicht sehr gut aussieht. Und da habe ich gefragt: Was machen Sie denn dabei? Ja, ich so ein Sprüh…., ich sprüh da was drauf, hat der Pfleger gesagt."

KOMMENTAR:
Ein Martyrium. Monatelang saß Elfriede Brust auf ihren offenen Wunden. Die Pfleger kremten und salbten – vergeblich. Das Übergabebuch zeigt, wie überfordert die Pflegekräfte waren. Die Einträge der letzten Tage:

10.6.: Sie klagt am ganzen Körper über Schmerzen. Gruß Dana. Jonny, ist die Dekubitus-Matratze in Betrieb? Fühlt sich sehr flach an.

Eine Woche später: Soll jeden Abend Verbandswechsel? Ich war mir nicht sicher.
Gruß Dana.

21.6.: Frau Brust bekam Notarztbesuch. Eingewiesen ins Krankenhaus. Jonny.

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MARIETTA GERTZ:
"Im Krankenhaus kam meine Mutter direkt gleich zur Untersuchung. Es hat sehr lange gedauert. Und dann hat der Arzt meine Schwester sowohl wie mich reingerufen und gefragt, was mit meiner Mutter wäre, wie die Frau aussieht, das kann er nicht begreifen."

KOMMENTAR:
Einen Tag später war Elfriede Brust tot. Die Ärzte des Krankenhauses Hamburg-Barmbek stellten als Todesursache Blutvergiftung fest, Sepsis verursacht durch multiple decubita ulcera. Todesursache ungeklärt. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab: Frau Brust starb am Dekubitus.

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MARIETTA GERTZ:
"Ich fühle mich elend immer noch und habe immer noch viele Bilder vor Augen, wenn ich denke, was meine Mutter an Schmerzen ausgehalten hat. Wenn man die Wunden sieht, dann weiß man alles."
Dekubitus gilt grundsätzlich als vermeidbar und somit als Indikator von Pflegequalität.