Gastbeitrag Jürgen Fliege:Die Angst der Alten oder die alte Angst

Warum funktioniert der Enkeltrick bei den Senioren?

Es gibt keine größere und alles Handeln bestimmendere Motivation bei uns
Menschen als unsere Angst verlassen zu werden. Sie ist die Wurzel sowohl für
den Erfolg unserer menschlichen Zivilisation wie da und dort auch für ihren
Zusammenbruch durch Kriminalität ebenso wie durch staatliche Über-
Fürsorger.

Wir Menschen sind die Spezies im Tierreich, die am meisten darauf angewiesen
sind, dass sie sich auf die anderen Mitglieder der eigenen Spezies verlassen
kann. Ein Menschenbaby braucht, um überhaupt überleben zu können, die
absolute Sicherheit, dass die Mutter es nicht verläßt. Aber die Angst verlassen
zu werden ist dennoch im psychischen Hintergrund immer präsent und bleibt
es auch ein Leben lang. Ein verlassener mensch kann nicht lange Mensch
bleiben. Ein von goitt und aller Welt verlassener gilt als Ver-rückt und nichtz bei
Trost.
Das erste Viertel des Menschen in Kindheit und Jugend ist eben kein Leben, das
man selbstbestimmt führt, sondern in erlebter zugestimmter Abhängigkeit von
den anderen Mitgliedern der Familie bzw, der eigenen Mutter. Menschen sind
Vertrauenstiere, Herdentiere, die durch Imitation lernen und lieben. Das macht
ihren evolutionären Erfolg aus.
Erwachsen und reif werden bedeutet in unserem Fall, dass das Kind sich
langsam und mühsam durch wachsendes und zu erarbeitendes Selbstvertrauen
aus dem Vertrauenskonkon der Mutter bzw der Familie emanzipiert und stück
für Stück Verantwortung über-von anderen also weg-nimmt und durch eigene
Entscheidung für sich und andere fällt. Selbstvertrauen aber bekommt ein
Mensch nicht automatisch durch Altern, sondern durch eigene Erfahrungen.
Die Geschichten von Kasper Hauser einerseits and psycho soziale Experiemten
erzählen von diesen inneren Prozessen. Selbstvertrauen ist das Ergebnis
elternlos durchgemachter Nächte, try and error, Erfolg und Misserfolg,.

Initiationen bei indigenen Völkern um den Beginn der Pupertät herum werden
inszeniert, indem die Heranwsachsenden ganz bewusst Gefahren ausgesetzt
werden, die sie mit eigener Hand und eigenem Verstand oft in der Nacht allein
bestehen müssen. So wird ein Mensch erwachsen und bekommt von der
Gesellscha ft früher oder später ein Stimmrecht, das ihn Selbstbestimmtheit
bescheinigt. Egal wie fragwürdig so ein Begriff ist.

Wie sehr die elementare Angst verlassen zu werden das ganze Leben weiter
bestimmt, Narzisten und Egomanen produziert, zeigt sich in all den
bevorsteheden und unausweichlichen Lebenskrisen. Die Selbstmordquote bei
Männern ist nach einer Scheidung extrem hoch. All die gewaltätigen
Auseinandersetzzungen in diesen Kriesen zeugen von der elementaren Tiefe
dieser Angst. Sie bestimmt alles. Alle Sicherungen der Kultur brenne durch. Die
Angst verlassen zu werden und diese zu bekämpfen mit allen Mitteln ist da und
regiert alles. Sie bestimmt unser Handeln. Und wenn in Middlecrises und
Trennungskrise und gesundheitlichen Krisensituationen das kulturelle
zivilisatorische Beiwerk zerbricht und durchlässig wweden läßt, ist die alte
Angst wieder da. Und Männer wehren sie ab durch Gewalt hier und Suizid dort.
Und Frauen suchen sich Frauengruppen, um diese Zeit des Verlassenseins zu
übertünchen

Im Alter aber, weil das Leben eben einem Muster in der Evolution folgt, beginnt
der Abstieg aus der Selbstbestimmung mit den nachlassenden Kräften in
Potenz, Hirn und Hand und Fuß und die zunehmen Mühe, es immer wieder neu
zu einem neuen, eigenes Selbstvertrauen zu implementieren. Doch man
scheitert mehr und mehr. Schwindende Kräfte.
Das ist im Grunde natürlich. Denn wie das Baby und das Kleinkind in seinem
Wachsen sich seit Jahrhunderttausenden auf die Mutter und die Familie und
den Stamm verlassen musste und konnte, so konnte der alte Mensch es
ebenso. Nur, dass anstelle der Mutter die Kinder und Enkel treten, der Clan, der
oder Stamm, die das langsam versiegende Selbstvertrauen des Einzelnen in
einer Athmosphäre des Vertrauens auffangen. Alte sind Vertrauensselig. Wie
Kinder. Beide können nicht anders Das ist nicht Naivität, das ist das

Fruchtwasser des Geborenwerdens und Alterns. Vertrauensseligkeit ist das
beste Wort für diese grundlegende Form der Menschlichkeit!
Wir Menschen sind eben nicht nur die längsten Nesthocker am Beginn unseres
Lebens, sondern im Alter ebenso. Fast die Hälfte unseres Lebens sind wir auf
anderen Mitmenschen angewiesen und auf ihr Vertrauen. Nirgendwo sonst in
der Natur gibt es einen so langen und scheinbar nichtsnutzigen Teil des Lebens,
weil die Reproduktion doch längst abgeschlossen ist, wie bei der Spezies
Mensch. Als wenn wachsende Weisheit, die erst im Alter eintritt, in dem man
Geduld in das System des Lebens und Akzeptierens lernen muss, mit der kein
einziges Kind geboren wird, Der alte Mensch kann sich auf die anderen
verlassen. Das sitzt so tief in den Genen wie kaum etwas. Sexualität, essen,
trinken, Dominanz, das sind die Triebfedern und Motive für alles Handeln. Im
Alter aber muss die Dominanz durch eine natürliche Vertrauensseligkeit ersetzt
werden. Augen sehen nicht mehr. Ohren hören nicht mehr, die Beine tragen
nicht mehr und die Hände können nicht mehr so festhalten wie früher.
Den hohen Stellenwert, den alten Menschen bei den indigenen Völkern vor
unserer Zeit, genossen, ist ein Zeichen davon. Als wenn die erlebte
Vertrauensseligkeit der Alten auch ein Motiv wäre, Kinder auf eine Welt zu
bringen, in der man sich bis auf den letzten Tag auf die anderen verlassen kann.
Kinderlosigkeit ist weiß Gott kein Zeichen von Vertrauensseligkeit, sondern vom
Streben nach Sicherheit versus Vertrauensseligkeit.
Aber moderne Familienplanung und Sozialgesetzgebung haben dieses familiere
Vertrauen in Institutionen verschoben. Den neuen Institutionen soll nun das
ganze Vertrauen der Alten gehören. Tut es aber, nicht. Das beweist einmal
mehr unser Umgang mit den Alten unter uns, wo sie wie leben Das fand seinen
skandalösen Höhepunkt in der Coronakrise, als Alte und Kranke sterben
mußten weil sie weder körperlich noch seelisch von den anderen geschützt
wurden.
Im Inneren der Alten schlummert immer noch die alte Energie und das alte
Muster, dass nur Vertrauensseligkeit dem letzten Stück Leben einen Sinn für
sich und die anderen gibt, eine Gewähr, dass das Leben gelingt.
Dieses Wissen und diese Wunde in uns allen, diese Ur-Angst verlassen zu
werden nutzen nun Kriminelle aus mit ihren Enkeltricks. Wo der Enkel nämlich

in Gefahr geraten ist, ist eben nicht nur der Enkel in Gefahr, sondern tief, tief
im Instinkt des Senioren, er selbst, das seit Urzeiten bewährte System des sich
Aufeinanderverlassenmüssens. Der alte Gesellschaft- und Familienvertrag ist in
Gefahr. Wenn der Enkel wankt, wankt der alte Mensch mit. In diese seelische
Flanke zielt der Enkeltrick mit dem viele verblüffenden Erfolg, wenn man diese
Zusammenhänge draußen vorlässt. Wir alle aber sind in unserem Handeln nicht
durch Rationalität bestimmt, sondern von Motivationen, die tief in unserem
Wesen liegen.
Das kann dann auch ganz absurde Blüten treiben, wenn ein alter Mensch, der
einen Betreuer zugewiesen bekommen hat, und durchaus mitbekommt, dass er
von ihm übervorteilt wird, diesen gegen besseres Wissen und alle Beweise
verteidigt. Der alte Mensch vertraut den Institutionen nicht. Er erlebt es doch
täglich, dass darauf kein Verlass ist und kein Vertrauen gegründet werden kann.
Es geht also nur weiter ins hohe Alter über die alte Brücke des Vertrauens von
Mensch zu Mensch. Nicht aber mit Kontrolle. Denn davon hat der alte Mensch
nicht mehr die Energie, sie auch zu leben.
Er ist -vergleichbar-schließlich missbraucht worden. Er kann sich vom
Vertrauensmissbrauchstäter solange nicht lösen, solange er kein Vertrauen in
die Institution hat, die den Täter stellen will Vergleichbar mit der Verarbeitung
von sexuellem Missbrauch von Kindern durch die Eltern bzw
Vertrauenspersonen. Auch die werden vom Opfer vor Gericht geschützt, weil
die lebenserhaltende Energie des Vertrauens höher und tiefer in unserem
Wesen angelegt ist, als die pseudo-Sicherheit durch die Institutionen und
Instanzen. Ein missbrauchtes Kind liebt seinen Vater auf einer tieferen Ebene
immer noch. Ein missbrauchter Senior fürchtet sich, gegen den Betreuer bzw
Vertrauten anzutreten, wie das Kind bei Gericht gegen seine Täter. Und wir
bleiben voller Unverständnis zurück, wie man denn nur seine eigenen
Missetäter schützen kann, um ihnen sogar am Ende zu folgen. Die Angst der
Alten verlassen zu werden hat sie nie verlassen. Jetzt halten sie sich sogar
daran fest.