Ich weiß nicht wie oft ich gerufen wurde, einen sterbenden Menschen zu begleiten. Am Telefon
nimmt man schon wahr, ob es akut ist oder ein längerer Sterbeprozess sein wird, bei dem ich mit
dabei sein darf. Es war und ist für mich immer eine Art heilige Ehre, so tief dabei sein zu dürfen bis in
den letzten Atemzug. Und wenn es denn akut schien war und ich mit fliegenden Rockschößen ans
Sterbebett eilte, ist es oft vorgekommen, dass die alte Dame oder der alte sterbende Herr nicht mehr
ansprechbar zu sein schien und die versammelte Familie schon abwinkte. Bedeutete das, dass ich zu
spät kam? Nein. Wenigstens nicht in den meisten Fällen. Der Sterbende war schon in einem längeren
Abschiedsgeschehen. Und das folgt immer einem alten Muster. Es ist wie beim abendlichen
Einschlafen. Es sind zuerst die Augen, die müde geschlossen werden. Das kann über Tage gehen. Es
gibt jetzt nichts mehr auf dieser Welt zu sehen. Es gibt auch keine Gefahr mehr, der man mit offenem
Auge begegnen und seinen Gliedern auszuweichen befehlen könnte. Wozu also die Kraft aufwenden,
noch etwas sehen zu müssen? Aber das Leben und Leiden und Abschied nehmen ist noch lange nicht
vorbei, wenn sich die Augenschließen. Die Ohren bekommen immer noch alles mit. Und darum ist
der Ratschlag der Ärzte und Pfleger ernst zunehmen, bei der Anwesenheit eines Sterbenden
miteinander so zu sprechen, wie wenn er alles hören könnte. Es ist vergleichbar wie beim Eischlafen
vor dem Fernseher. Zuerst fallen die Augen zu. Aber die Ohren sind immer noch auf Empfang. Aber
wiewohl sie natürlich auch über die Nacht offen bleiben wie jede Mutter eines Kleinkindes weiß, wird
die Müdigkeit bald überhand nehmen und die akustischen Signale der Ohren deutlicher als je zuvor
auf Dringlichkeit prüfen und dann wohl ein weites Stück der Reise ins Unbekannte erlauben . Ist man
dann zu spät, um einen Sterbenden zu begleiten? Zu spät, zwecklos, er reagiert nicht mehr! Nein!
Jetzt setzte ich mich ans Bett, atme, werde stille, schließe meine Augen auch, hör auch nicht mehr
was in meiner Umgebung noch gesprochen wird. Jetzt erst nehme vorsichtig den Sterbenden bei der
Hand. Schweigend. Nur meine Hand auf der alten, dürren bleichen Hand des Sterbenden. Nichts tun.
Die Hände werden es tun. Die Hände werden sich finden. Die Hände lösen jede Verlassenheit auf.
Die Kälte spüren, die sich schon in den Extremitäten des Gehenden breit macht. Die Energie
konzentriert sich auf das Herz und das Hirn. Aber auch meine Wärme spüren, die ich mirgebraht
habe. Wärme, die noch durchdringt wie ein zweites Sauerstoffgerät beim Tauchen. Dann ein
vorsichtiges Streicheln mit dem Daumen. So wie eine Mutter am Bett des fieberndes Kindes saß und
mit dieser Geste des Trostes und der Nähe ein: Alles wird gut!“ von Seele zu Seele, von Herz zu Herz,
von Hand zu Hand schickte. Unsere Hände haben, bei aller harten Arbeit, auch ein feines Gespür. Ein
Zittern durchläuft die alte Hand. Niemand ist allein. „Alles wird gut!“
Ach, unsere Hände! Nicht umsonst weiß unsere Sprache, dass, wenn wir unsere Seelen spüren, wie
sie von was auch immer gerührt sind, berührt sind, also angefasst sind von irgendwem oder
irgendwas, dass also diese Energie die Lebensader darstellt. Es ist die Berührung, die mitten ins Herz
trifft und Raum und uns Zeit und Raum zum Atmen lässt.
Wer weiß schon, dass eine der neuesten medizinischen Forschungsrichtungen, die Epigenetik,
versucht, diese Heilkraft unserer Berührungen zu untersuchen? Eine Heilkraft, die in unseren
Händen, in unseren Fingern, in jeder kurzen Berührung in das Zentrum unseres Wesens durchschlägt.
Eine Heilkraft, die, übrigens, nicht nur von Mensch zu Mensch übertragen wird, von Hand zu Hand
und Haut zu Haut, sondern auch unseren Umgang mit unseren Tieren und Pflanzen umfasst. Von
Experimenten an Mäusen hat man schon gelesen, dass, wenn sie ohne Kontakt zu anderen
aufwachsen müssen, ihr Leben nur von sehr kurzer Dauer ist. Wir Menschen sind eben auch nicht aus
Holz oder gar aus Stein und versteinert. Wir sind Wesen wie alles was lebt, wie alle, die Körper und
Seele haben, die auf alles reagieren und sich entsprechend organisieren und einstellen können. Wir
sind, solange wir leben, miteinander nur im Fluss.
Das scheint nichts Neues zu sein. Ist es im Grunde auch nicht. Aber die Weisheit der Alten und der
Instinkt der junger Eltern, die den Schmerz ihrer Kinder und Enkel mit spontanem Handauflegen und
Streicheln begegnen, Eltern, die ahnen, wussten und wissen, wie sehr auch ein Händedruck die Seele
stärken kann, die sind auch in unseren Tagen das Heilmittel Nummer Eins! Unsere Hände sind
Liebesboten unseres liebenden Herzens. Und ein kleiner Finger, der geborgen in einer alten Hand
liegt und sich dort wie gebettet und ausruhen kann, weiß wovon ich erzähle. Hände sind da und dort
wichtiger als Brot! Unsere sich berührenden Hände sind die stille Brücke des Trostes, der Alt und Jung
bei Trost hält. Ohne Berührung würden wir nicht mehr bei Trost sein. Und wo die Berührung fehlt,
warum auch immer, wartet der Tod bei vollen Tellern. Wir würden verrückt und sterben.
Und ausgerechnet dieses liebevollste aller Heilmittel, das Berühren oder Streicheln, das Lieben und
das zärtlich Sein, das Trösten und Beruhigen, muss sich in wissenschaftshörigen Zeiten immer wieder
neu behaupten und gegen jeden neusten Roboterangriff wehren. Wie sehr und radikal, das hat sich
in den letzten Coronajahren einmal mehr gezeigt, in der eine totale Isolation gepredigt und als
Heilmittel für alle verkauft wurde. Es war, wie hoffentlich alle nun wissen, eine Anweisung zum Tode.
Wissenschaft als Sportpalast! Scheinbar wissenschaftlich gestützt trat sie gegen unseren natürlichen
Impuls an, sich gegenseitig in Not und Krankheit nicht allein zu lassen. Weder zuhause, noch in den
Kinderstationen der Krankenhäuser und erst recht nicht auf den Fluren und Zimmern unserer
Seniorenheime. Der Mensch heilt nicht vom Brot allein, sondern von einer jeglichen Berührungen der
anderen. Sich sehen, erkennen und dann auch berühren, das macht das Leben aus. Das spendet Kraft
zu gesunden. Die tief in unserem Instinkt und unserer Menschheitsgeschichte gesammelte Erfahrung,
dass wir allein verloren sind, aber zusammen doch überleben werden, lässt uns leben und gesunden.
Die Epigenetiker in der Medizin berichten nun, dass jede unserer Zellen in unserem Körper, alt oder
jung, auf solche Berührung sofort reagieren. Sie bekommen alle miteinander ein Signal, dass eine
liebevolle Berührung , die von Herzen kommt, stattfindet und die in jeder Zelle sofort dazu führt,
dass sie sich entstresst und öffnet wie eine verschlossene Knospe, um so berührt wieder am Leben
teilzunehmen. Jetzt mit neuer Kraft hat sie sogar die Möglichkeit, gefährliche Krankheitskeime vor
die Tür zu setzen. In jeder Zelle, im ganzen Organismus, im ganzen Menschen.
Der alte Mensch lebt also wie jedes Kind und jeder liebende Erwachsene im Wesentlichen von all den
Berührungen, die er erfährt. Das wird in einer Zeit, in der die Mutter in ihrer tröstenden und
liebenden Wirkung im Laufe des älter werdenden Lebens mehr und mehr von Institutionen und
Einrichtungen kaum ersetzt werden kann, von Amts wegen vergessen. Familienangehörige und
Pfleger bekommen das Händehalten von niemandem vergütet.
Dabei hat uns die Sehnsucht nach einer haltenden Hand unser Leben lang nicht verlassen. In den
Zeremonien der Trauungen wünschen sich die Brautpaare bis zum heutigen Tag den alten Choral:“ So
nimm den meine Hände und führe mich!“ Wiewohl paradoxerweise der als Pilgerlied nicht für die
hohe Zeit des Lebens, sondern für die dunklen Stunden, als Musik, um durch das Todestal zu
kommen, geschrieben wurde. Es tut bei der Trauung verrückterweise auch gute Dienste und rührt
alle. Andere Paare lassen für dasselbe tiefe Empfinden der Zugehörigkeit zueinander die Beatles
singen, dass man sich gegenseitig die Hand halten wird in guten und in bösen Zeiten. Und dann,
wenn der Ring angesteckt wurde, legen sie die Hände vorsichtig noch und sehr zärtlich die Hände
ineinander und- ich hab es ganz vorne und immer wieder mitbekommen, drücken leicht zu. Der Bund
des Lebens ist über ihre Hände geschlossen worden. What ever the weather, we stay together!
Das sollte für uns alle gelten. Wir müssen nicht verheiratet sein, um uns gegenseitig, die Hand zu
halten. Handhalten ist Menschsein.
Nach dem letzten Atemzug halte ich immer noch die Hand. Wer weiß, wie lange wir sie noch spüren.
Und erst Minuten später nehme ich sie vorsichtig hoch, greife auch nach der anderen freien Hand
und legte sie nun vorsichtig wie wenn sie aus feinem fast durchscheinendem Glas wären, ineinander.
Hand in Hand! Alles wird gut.